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Warum Nachhaltigkeit einen starken europäischen Kapitalmarkt braucht

Erschienen am:
11.08.2022

Warum Nachhaltigkeit einen starken europäischen Kapitalmarkt braucht

Um Europas Wirtschaft erfolgreich in Richtung Klimaneutralität und Nachhaltigkeit umzubauen, bedürfe es einer Vertiefung der Kapitalmarktunion, einer Transformations-Taxonomie sowie praktikabler Lösungen bei Berichterstattungsvorgaben und Finanzregulierungen, fordert Stephan Leithner, Vorstand bei der Deutsche Börse AG, in seinem Standpunkt-Gastbeitrag.

Dr. Stephan Leithner, Vorstand bei der
Deutsche Börse AG

Welche Weichen müssen wir stellen, damit der nachhaltige Wandel unserer Wirtschaft gelingt? Wie sichern wir die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas und erreichen mehr Souveränität? Diese Fragen werden angesichts neuer geopolitischer Realitäten mit jedem Tag dringlicher – und gleichzeitig wird der verbleibende Handlungsspielraum immer kleiner. Was sollen wir also tun?

Der öffentliche Sektor und der Bankensektor können die notwendigen Investitionen in die Transformation allein nicht leisten. Eine entscheidende Rolle kommt daher einem europäischen Kapitalmarkt mit ausreichender Liquidität und Markttiefe zu. Ohne den Kapitalmarkt wird die Transformation zu einer klimafreundlichen Wirtschaft nicht nur deutlich schwieriger, sondern auch weniger effizient und signifikant teurer. 

Nicht nur tiefgrüne Vermögenswerte sind wichtig

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Transformation braucht Innovation. Und die dafür notwendige Mobilisierung von Kapital findet primär am Kapitalmarkt statt. Insellösungen sind dabei nicht gefragt, vielmehr muss ganzheitlich gedacht werden, um den gesamten Kapitalmarkt auf Nachhaltigkeit auszurichten. Nur so werden neue Anlageklassen, -stile und -themen erschlossen und Kapital mobilisiert – zum Vorteil für die Realwirtschaft. 

Das alles kann nur mit konsistenten politischen Rahmenbedingungen gelingen. Durch sie können Unternehmen planen; Finanzakteure können die Risiken des Wandels mittragen und minimieren sowie den Umbau der Wirtschaft mit ihren Investitionsentscheidungen unterstützen. In Europa ist hier schon viel Gutes passiert.

Die Taxonomie als Klassifizierungssystem ist der erste Versuch eines Ansatzes, um Transparenz und Orientierung zu schaffen. Diese Klassifizierungslogik wird sich aber nur dann durchsetzen, wenn sie technologieoffen sowie praxis- und anwendergerecht ist und auch die Phase der Transformation angemessen berücksichtigt. Es darf nicht nur in tiefgrüne Vermögenswerte investiert werden, sondern auch und gerade in den Umbau von Unternehmen zur Finanzierung ihrer Transformationsstrategien. Das gilt insbesondere in Deutschland mit seiner starken industriellen Basis und einem innovativen Mittelstand.

Praktikable Lösungen nötig

Eine ganzheitlich gedachte Nachhaltigkeit und insbesondere der Weg dorthin sind vielfältig und komplex. Auch jenseits der jüngsten Entscheidung über die Einstufung von Kernenergie und Gas als nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten durch das Europäische Parlament werden wir zukünftig mit Fragestellungen konfrontiert sein, auf die es keine einfachen und binären Antworten gibt. 

Nötig sind daher praktikable Lösungen, schnellstmögliche Rechtssicherheit und Raum für eine pragmatische Transformationsklassifizierung, auch um die „grüne“ Taxonomie und ihre Akzeptanz nicht zu beschädigen. So kann sie zu dem Instrument werden, das sie ursprünglich sein sollte: Ein wissenschaftsbasierter Orientierungsmaßstab, der marktgetriebene Prozesse stärken soll. 

Aber reicht das aus? Ich sehe drei zentrale Ansatzpunkte, um diesen Prozess weiter voranzutreiben.

Erstens: einheitliche Berichtsstandards und ein schlüssiges EU-Regelwerk für alle Finanzmarktakteure

Wir brauchen Kohärenz über die Fülle an nachhaltigkeitsrelevanten Regelwerken hinweg. Es muss bei jedem Schritt entlang der Investitionskette klar sein, welche Voraussetzungen nachhaltige Finanzinstrumente erfüllen müssen, um auch als solche benannt und vertrieben werden zu dürfen. Sonst drohen mangelnde Klarheit und fehlende Abstimmung, den nachhaltigen Wandel auszubremsen. Weiterhin ist auch das Timing entscheidend: Berichtsstandards dürfen nicht erst dann verabschiedet werden, wenn Unternehmen bereits berichtspflichtig sind. 

Ein besonderes Augenmerk sollte auch darauf liegen, dass Unternehmen die ESG-Informationen berichten, die für sie tatsächlich materiell sind – so wird Berichterstattung nicht zum Selbstzweck. Eine inhaltliche und zeitliche Abstimmung ist auch im Hinblick auf die internationalen Entwicklungen rund um das International Sustainability Standards Board geboten. 

Zweitens: verlässliche und vergleichbare Daten zu Nachhaltigkeitsaspekten 

Aus Offenlegung, gemeinsamen Standards und einer vergleichbaren Datenlandschaft können Anbieter von Analyseinstrumenten Dienstleistungen mit echtem Mehrwert generieren – und mit fundierten ESG-Informationen die Basis für informierte Investitionsentscheidungen bilden. Unabhängigkeit, Transparenz und Verlässlichkeit bei ESG-Ratings sind hier unerlässlich, allerdings bei gleichzeitiger Methodenfreiheit, um unterschiedliche Geschäftsmodelle, sektorale Ausgangsbedingungen und Informationsbedürfnisse von Investoren zu berücksichtigen.

Drittens: eine europäische Kapitalmarktunion 

Die europäischen Kapitalmärkte sind immer noch zu stark fragmentiert und hindern dadurch den freien Kapitalfluss zwischen den Ländern. Um die Transformationskraft des Kapitalmarkts voll zu entfalten, gilt es, europäischen Unternehmen den Zugang zu den Kapitalmärkten zu erleichtern und grenzüberschreitende Transaktionen zu vereinfachen. Eine effiziente und vollständige Kapitalmarktunion leistet hier einen entscheidenden Beitrag.

Die kürzliche Ansiedelung des International Sustainability Standards Board (ISSB) in Frankfurt am Main hat gezeigt: Die Welt vertraut darauf, dass Europa in Nachhaltigkeitsfragen konzeptionell führend ist. Aber das ist kein fait accompli – die Konkurrenz schläft nicht. Stellen wir uns besser heute als morgen darauf ein. Wir Europäer müssen die Erwartungen, die andere in uns legen, mit Leben füllen – und in handfeste Standortvorteile umwandeln. Die EU darf diese Chance nicht vergeben, mit einem umfassenden Verständnis von Nachhaltigkeit Vorbild zu sein und gleichzeitig anschlussfähig zu bleiben. 

Wenn wir es schaffen, diesen gesamtheitlichen Ansatz in der EU gemeinsam umzusetzen, werden wir nicht nur zur Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit Europas beitragen, sondern auch konzeptionell global richtungsweisend sein.

Von Dr. Stephan Leithner 
Der Artikel ist zuerst im Tagesspiegel vom 11. August 2022 erschienen.

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